Meine Forschung beschäftigt sich mit Anna May Wong (1905-1961), einer der wichtigsten Ikonen der weltweiten chinesischen Diaspora, wenn nicht der chinesisch-amerikanischen Kultfigur des 20. Jahrhunderts schlechthin. Ich zeige sie als Pionierin für die brennenden Fragen unserer Zeit nach Zugehörigkeit, Ausgrenzung und Ermächtigung. An Anna May Wong mache ich deutlich, dass Identitäten nicht eindeutig aus einer Herkunft abgeleitet werden können; dass Praktiken der Aneignung Rassismen reproduzieren und sie zugleich subvertieren können; und dass Aneignung aus einer marginalisierten Position eine Selbstermächtigung sein kann.
Anna May Wong hat Dinge erreicht, die für die damalige Zeit unglaublich erscheinen: Als 15-Jährige spielte sie die Hauptrolle im ersten Farbfilm Hollywoods, und dies in einer Epoche, in der Menschen aus China systematisch aus der weißen amerikanischen Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt wurden. Als der große Durchbruch in Hollywood für sie jedoch ausblieb, ging sie nach Europa, wo sie als Hollywoodstar gefeiert wurde. Sie spielte auf Deutsch und Französisch, lebte für mehrere Jahre in Berlin und London, tourte bis Mitte der 1930er Jahre quer durch den Kontinent. Zurück in Hollywood äußerte sie ihre Kritik am Rassismus in den USA und weigerte sich, neben Schauspieler*innen zu spielen, die die Praxis des Yellowfacings praktizierten. Wongs Mut, gegen jegliche Widerstände ihren eigenen Weg zu gehen, macht sie bis heute zu einer faszinierenden Gestalt.
Ich will Wongs Geschichte mehrfach erzählen: Zunächst zeige ich Wongs wechselvolle Suche nach der eigenen Identität. Ich zeichne nach, wie sie sich selbst zunächst als „chinese flapper“ verstanden und sich später in Europa als Hollywood-Star vermarktet hat. In den 1930er Jahren versuchte sie die chinesische Frau so gut wie möglich in der Öffentlichkeit zu verkörpern. Ich will aber auch die Geschichte erzählen, wie sie von anderen gesehen wurde. Anna May Wong war für die Kritiker*innen und das Publikum interessant, weil sie sich nicht einordnen ließ. Sie war weder eindeutig chinesisch noch amerikanisch. Sie war weder ausschließlich dem Westen noch dem „Fernen Osten“ zuzuordnen. Gerade dieses Rätsel trieb die Fantasie ihrer Bewunder*innen an: Entlang ihrer Person versuchten sie herauszufinden, was den Osten vom Westen unterschied. Schließlich will ich in anhand der Film- und Lebensgeschichte Wongs, insbesondere auch anhand ihrer politisch-kultureller Gesten, das Spannungsverhältnis von Anpassung und Subversion, Aneignung und Instrumentalisierung darstellen und aktuelle Debatten zur Identitätspolitik erweitern.
Es wäre ein Leichtes, die Darstellungen, in denen Wong auftrat, als rassistische und sexistische Werke abzutun. Doch Anna May Wongs Filmfiguren sträuben sich gegen derartige Vorurteile und Stereotypen. Die Filme stellen sie zwar immer weißen Figuren gegenüber, doch Wongs Filmfiguren sprengen die Grenzen. Ihr Kunststück bestand darin, dass sie sich die rassistischen Bilder auf distanzierte wie spielerische Weise aneignete. Wong tritt in allen europäischen Filmen als exotische Tänzerin auf, die vor einem weißen Publikum ihren Körper zur Schau stellt. Doch legt sie diese exotische Fantasie nach der Tanzaufführung ab wie das Kostüm. Wong stellt die exotische Tänzerin auf der Bühne performativ her und zeigt die Künstlichkeit dieses Stereotyps.
Aneignung wurde bei ihr zur Überlebensstrategie in der rassistischen Gesellschaft: Indem sie sich exotisierte, wurde sie für das weiße Publikum konsumierbar. Zugleich wurde durch die Aneignung sichtbar, dass dieses rassistische Stereotyp nicht mit ihr selbst identisch war. Mit dieser Strategie konnte Wong sich ermächtigen und diese Strategie macht sie für unsere Gegenwart spannend. Obgleich Wongs Karriere vor 100 Jahren begann, erscheint sie uns als Avant-la-lettre-Pionierin der Dekonstruktion. Aus der Gegenwart betrachtet, nehmen Wongs Performanzen Diskurse der Postmoderne vorweg, die Identität als hybrid und als Prozess verstehen.
Veröffentlichungen (Auswahl)
Film Europa – Anna May Wong als Chiffre des Fremden, in: Europas Außengrenzen . Interrelationen zwischen Raum, Geschlecht und „Rasse“, Hg. von Irina Gradinari et al., Bielefeld 2021, 113-140.
Anna May Wong. Grenzgängerin des transnationalen Kinos, in: Grenzüberschreitungen. Migratinnen und Migranten als Akteure im 20. Jahrhundert, Hg. von Heike Klapdor / Wiebke von Bernstorff / Kristina Schulz, Reihe Frauen und Exil Band 11, München 2019, 98-111.
Shape Shifters. Cross-dressing and Sexual Deviance in Piccadilly (1929) and Shanghai Express (1932), in: Sexualities, 23 (1-2), 2020, URL:
https://doi.org/10.1177/1363460718779800
Vorträge (Auswahl)
Shape Shifters: Cross-dressing and Sexual Deviance in Piccadilly (1929), 10th European Feminist Research Conference, Göttingen 2018
Anna May Wong als Grenzgängerin des paneuropäischen Kinos der 1920er Jahre, Grenzüberschreitungen: Migrantinnen und Migranten als Akteure im 20. Jahrhundert, Bern 2018
Anna May Wong und Praktiken der Aneignung und Subversion von Exotic Dance, Lectureperformance im Rahmen von „The Future is F*E*M*A*L*E“ Academy, Berlin 2017